In einem Land vor unserer Zeit, als die Tiere noch die menschliche Sprache sprechen konnten, lebten sie mit den Menschen und den Göttern friedlich nebeneinander.
In den Anden Perus am Fuße eines Berges, lebte der wunderbarste aller Vögel, der winzig kleine Kolibri. Er war mutig, steckte voller Tatendrang, liebte die Herausforderung und das Abenteuer. Er genoss sein Leben in vollen Zügen. Kolibri zweifelte niemals seine Kräfte an, weil er auf sein Herz hörte und ihm vertraute. Er war der Lichtbringer und Herzöffner der Menschen.
Man erzählte sich, wenn er auf seiner Flöte spielte, verzauberte er die Menschen und öffnete ihre Herzen für die Liebe. Sein Federkleid leuchtete wie der Himmel und die Sonne, im schönsten hellblau und sonnengelb.
Zu jener Zeit saß Kolibri auf einem Ast seines Lieblingsbaumes und spielte auf seiner Flöte. Sein wunderbar liebliches Flötenspiel hörten zwei Mädchen vom nahegelegenen Dorf, die sich unter dem Baum befanden. Dort, auf der warmen Wiese, lagen sie und eines der Mädchen, Mira, erfreute sich besonders über die Sonnenstrahlen auf ihrer Haut. Sie sang hingebungsvoll ihr Lieblingslied und liebte es, durch die Baumkrone hindurch auf den silbrig glitzernden Himmel zu blicken und ihre Stimme zum Klingen zu bringen.
Weit oben, am höchsten Punkt der Baumkrone, lebte seit Anbeginn der Zeit der kleine Gott Amor. Er hatte es sich hier recht gemütlich eingerichtet und war an diesem Tage damit beschäftigt, in seiner Behausung aufzuräumen.
Da vernahm er die glockenhelle Stimme des Mädchens und das liebliche Flötenspiel Kolibris. Diese Mischung von Gesang und Tönen berührte ihn so sehr, dass er sofort einen Verschmelzungsplan schmiedete. Er kramte in seiner Schatzkiste und holte sein Engelshorn hervor, blies kräftig hinein und heraus kamen hunderte von Herzerlnoten. Sie schwebten langsam von der Baumkrone herab, direkt in die Ohren von Kolibri und Mira und breiteten sich in ihren Körpern aus. Oh, was ging dann ab? Ihre Augen bekamen einen Glanz und ein Leuchten, welchen man nur von Verliebten kennt. Sie nahmen um sich herum nichts mehr wahr, außer….. Mira, das Flötenspiel von Kolibri und Kolibri, den Gesang von Mira.
Was war geschehen? Bis über beide Ohren hatten sie sich verliebt. Gott Amors Herzerlnoten entzündete die Liebe der beiden füreinander.
Kolibri flog von seinem Ast herab, direkt in die ausgestreckte Hand von Mira. Voller Zärtlichkeit und Liebe betrachteten sie sich und wussten von diesem Augenblick an, sie gehörten zusammen. Ihre Herzen flogen einander zu und nichts auf dieser Welt konnte sie nunmehr auseinander bringen. Ungeahnte Glückseligkeit war bis in die kleinste Zelle ihres Körpers spürbar.
Es vergingen Sekunden, Minuten oder waren es gar Stunden? So intensiv betrachteten sie sich, dass sie jegliches Zeitgefühl verloren hatten. Dieses Gefühl der Zuneigung und Verbundenheit war derart stark und neu, dass es beide so erschöpfte und sie sich unter dem Baum zum Schlafe begeben mussten. Mira drückte Kolibri vorsichtig an ihre Brust, nahe an ihr Herz. So schliefen sie bis in die Morgenstunden.
Als der Anbruch der Morgenröte am Horizont zu erkennen war, öffneten beide gleichzeitig die Augen. Kolibri flüsterte Mira zärtlich ins Ohr: „Komm, wir wollen in mein Haus gehen!“ Mira reckte sich, lächelte Kolibri verliebt an und sprang auf. Vorsichtig setzte sie Kolibri auf ihre Schulter und so machten sie sich voller Freude auf den Weg.
Dort angekommen, war das Haus aber so winzig klein, dass das Mädchen darin keinen Platz fand. In die Behausung passte gerade mal die rechte Hand von Mira. Mit einem Auge konnte sie hineinblicken und mit Wehmut im Herzen erkannte sie, dass in diesem Haus ein Zusammenleben nicht möglich war. Wie konnten sie hier jemals glücklich werden? Ein miteinander Leben war völlig ausgeschlossen. Schweren Herzens und voller Trauer darüber, dass sie wohl niemals mit ihren Geliebten Seite an Seite verbringen würde, lief sie tränenüberströmt in ihr Dorf zurück.
Kolibri aber, der nicht zum Aufgeben geboren war, flog am Abend vor das Dorf. Er setzte sich auf den Ast seines Lieblingsbaumes und spielte auf seiner Flöte die schönsten Liebeslieder. Eine tiefe Melancholie steckte in seinem Spiel. Er wollte seine Mira mit seinem Zauberspiel locken. Das Mädchen lauschte und sagte: „Der Kolibri ist’s, der spielt!“
Diesmal erlag sie jedoch nicht mehr seinem Flötenspiel und ging nicht zu ihm. Dennoch kam der Kolibri jeden Abend vor das Dorf und spielte seine schönsten Weisen.
Das Spiel wiederholte er Tag für Tag, Woche für Woche. Bis….., ja, bis es Gott Amor zu bunt wurde. Auch er hatte dieses traurige und zugleich schönste Flötenspiel Kolibris bis hinauf in seine Baumkrone gehört. Er war nun auch schon ein bisschen verzweifelt darüber, was er bei den beiden angerichtet hatte und welchen Herzschmerz sie seinetwegen erleiden mussten.
Da hilft nur eines…. er kramte abermals in seiner Schatzkiste, um etwas Brauchbares daraus hervorzuzaubern. Lange suchte er, da endlich, am Boden lag es, sein Verwandlungsamulett. Es hatte die Form eines Donuts, schimmerte smaragdgrün und hing an einem Lederband. Er würde es Kolibri bringen….
Seit Jahren hatte er sich nicht mehr aus seiner Baumkrone fortbewegt. Mühselig entwirrte er seine eingerosteten Flügel, packte das Amulett und schwebte damit zu Kolibri. Der staunte nicht schlecht, als er Gott Amor vor sich sah. Amor hängte das Amulett Kolibri um den Hals und sprach: „Dieses Amulett bringt dich in die Menschenwelt. Wenn du wirklich von ganzem Herzen bereit dazu bist und mit deiner Liebsten bis an das Ende deiner Tage zusammen leben möchtest, dann puste durch das Amulett und du wirst dich in einen Menschen verwandeln.“
Kolibri wusste zuerst gar nicht wie ihm geschah. Als die Worte des Gott Amors bis zu ihm durchgedrungen waren, fing er zu jauchzen und zu jubilieren an. Er bedankte sich überschwänglich und wollte sofort losstarten und zu seiner Mira aufbrechen. Doch der Donut war so groß und schwer, dass es nahezu ein Ding der Unmöglichkeit darstellte, damit zu fliegen.
Seine Kraft, sein Mut und vor allem sein unbändiger Glaube an sich selbst und daran, seine Liebe mit Mira leben zu können, bestärkten ihn so sehr, dass er das Unmögliche wahr werden ließ. Er erhob sich in die Lüfte und …… dieser winzige Kolibri mit dem riesigen Donut, flog zu seiner Herzkönigin und Liebe seines Lebens…Mira.
Das Mädchen erblickte ihn, öffnete ihre Handfläche und Kolibri ließ sich mit letzter Kraft darauf nieder. Ohne ein Wort zu sagen, pustete er durch den Donut und …. eine mächtige Erschütterung des Erdbodens war zu spüren. Kolibri verwandelte sich vor den Augen Miras in den schönsten Mann, den man sich auf Perus Erdboden nur vorstellen konnte. Jung, muskulös, langes schwarzes Haar, dass im Wind flatterte. Tiefgrüne Augen, aus denen das Feuer der Leidenschaft hervorblitzte. Über seinen muskulösen Oberkörper schlang sich ein blitzblankes blaugelbes Hemd, welches halb geöffnet war. Das smaragdgrüne Amulett hing über seiner Brust. Er trug eine enge blaue Hose, war barfuß und strahlte solch eine männliche Schönheit aus, dass Mira die Luft zum Atmen wegblieb. Sie fielen sich in die Arme, küssten sich mit leidenschaftlicher Hingabe und gleichzeitig weinten sie vor Freude.
Kolibri flüsterte dem Mädchen ins Ohr: „Komm Mira, begleite mich nun in mein Haus und darf ich mich bei dir vorstellen: „Ich bin Korbin, der Flötenspieler.“ Eng umschlungen verließen sie das Dorf und begaben sich zu Korbins und Miras neuem Zuhause.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie heute noch glücklich am Fuße eines Berges in den Anden Perus.
Gerda Strauß